Frankfurt am Scheideweg: Stärken, Chancen, Schwächen
In Frankfurt leben knapp 760.000 Menschen, in der Metropolregion FrankfurtRheinMain sind es über 5,8 Millionen. In Frankfurt hat die Europäische Zentralbank ihren Sitz, Frankfurt ist internationales Zentrum für Finanzdienstleistungen. Das macht die Stadt zur Wirtschafts- und Finanzhauptstadt Deutschlands, darüber hinaus zum Technologiezentrum – insbesondere für den sogenannten „FinTech“-Sektor. Mehr als 200 lokale und internationale Banken und eine große Anzahl von Finanz-Start-ups sind in der Stadt vertreten – die Devisenplattform 360T etwa wurde von der Deutschen Börse 2015 für rund 725 Millionen Euro gekauft. Goethes Geburtsstadt birgt aber auch weniger offensichtliche Ressourcen: ihre Kreativwirtschaft. Zweifellos ist Frankfurt als deutsche Stadt mit dem höchsten kreativwirtschaftlichen Umsatzanteil (6 Prozent) gemessen am städtischen Gesamtumsatz (Stand 2016) bereits mit vielen Vorteilen ausgestattet: mit ihren Messen und Festivals (einschließlich der international renommierten Frankfurter Buchmesse), mit Zehntausenden von Studenten, mit ihrer „Creative Class“, zum Beispiel im Verlagswesen, im Design, in der elektronischen Musik und verstärkt auch im Modesektor, etwa durch eine eigene „Fashion Week“ ab 2021. Berechnungen weisen rund 41.000 Erwerbstätige im Kultur- und Kreativwirtschaftssektor aus – und einem Umsatz von knapp sechs Milliarden Euro.
Es ist wichtig zu verstehen, dass eine Messe, eine „Fashion Week“ oder ein Festival positive ökonomische Effekte in unterschiedlichen Dimensionen erzielt. Wie unsere Studien zeigen, organisiert sich die Kreativwirtschaft in konzentrischen Kreisen: Der erste Kreis steht für kreative Leistungen im engeren Sinne (zum Beispiel Festivaleinnahmen). Der zweite Kreis stellt ein ganzes Ökosystem von „verwandten“ Tätigkeiten dar, die als „related activities“ in Beziehung zu Kunst und Kultur stehen (beispielsweise Übersetzungsfirmen, Reprografie, Studio- und Equipmentvermietung). Der dritte Kreis – „non-related activities“ – weist keine Verbindung zu Kultur im engeren Sinne auf, profitiert aber davon: Hotels, Restaurants, Flughäfen, Transportwesen, Tourismus, aber auch Sicherheitsfirmen, IT und weitere Anbieter. Diese Perspektive zeigt die grundlegende Bedeutung der Kultur- und Kreativwirtschaft für die wirtschaftliche Entwicklung einer Stadt. Die entsprechende Hebelwirkung müsste präzise berechnet werden. Auf der Grundlage bestehender Studien kann jedoch angenommen werden, dass jeder investierte Euro eine Rendite in Höhe des Drei- bis Fünffachen der ursprünglichen Ausgaben erzielt.
Gleichzeitig befindet sich Frankfurts Wirtschaft im Wandel: Zwar bestätigen vorliegende Daten, dass die Stadt nach dem Brexit weiterhin Banken und Finanzdienstleistungen anziehen kann und aus diesem Grund auch neue Arbeitsplätze im Bankensektor geschaffen werden (etwa 32 neue Banken aus 15 Ländern haben sich in Frankfurt niedergelassen und mindestens 17 haben ihre Präsenz in Frankfurt verstärkt), doch hat der digitale Wandel auch einen starken Arbeitsplatzabbau mit sich gebracht. Daniel Cohen, der französische Ökonom und Gründer der Paris School of Economics, prognostiziert, dass 50 Prozent der Arbeitsplätze in der Finanzdienstleistungsbranche in den kommenden Jahren verschwinden werden.
Auch wenn sich Frankfurt als Finanzhauptstadt Deutschlands und Kontinentaleuropas behaupten wird, ist ein erheblicher Stellenabbau in den kommenden Jahren wahrscheinlich. Diese Prozesse werden kurz- und langfristig durch zwei besondere Phänomene beschleunigt: die Corona-Krise und die ökologische Wende. Die Auswirkungen sind schon heute zu beobachten: die wachsende Bedeutung ortsunabhängigen Arbeitens, die Abwanderung aus Städten, eine verstärkte ökologische Ausrichtung, die Disintermediation, das heißt der Wegfall von Dienstleistungen und Banken, digitaler Nomadismus und so weiter. Letztlich stehen das gesamte Wirtschaftsgefüge der Stadt und ihre Arbeitsplätze vor einem radikalen, massiven und dauerhaften Wandel.
Was kommt „nach den Banken“? Was wird aus Frankfurt, wenn der Finanzplatz Frankfurt zwar seine finanzielle Kraft behält, aber mit immer weniger Beschäftigen und Bürofläche klarkommen muss? Wenn Neo-Banken nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel sind? Wenn die Mitarbeitenden nicht mehr „inhouse“, sondern „remote“, „nomadisch“ oder vielleicht freiberuflich tätig sind? Auf diese Fragen müssen Antworten gefunden werden.
Die Kreativwirtschaft könnte ein Teil der Lösung für die zukünftige Wirtschaftsentwicklung Frankfurts sein.
Die große Transformation der Kultur- und Kreativwirtschaft
Seit den 2000er Jahren hat die Kultur- und Kreativwirtschaft einen beispiellosen Wandel erlebt: Erst das Internet, dann die sozialen Netzwerke und schließlich das Smartphone haben den Sektor völlig verändert. Betrachtet man die Einführungszeitpunkte der wichtigsten Akteure, scheint die Beschleunigung atemberaubend: Google 1998, Facebook 2004, YouTube 2005, Twitter 2006, das erste iPhone 2007, Instagram 2010. Selbst der heute so dominante Anbieter Amazon wurde erst 1994 gegründet.
Dieser Wandel spiegelt sich in den wichtigsten Trends wider, die hier in groben Zügen und einigen wenigen Stichpunkten wiedergegeben werden:
- Lange dominierte das „industrielle“ Modell die „kulturellen“ Inhalte, später folgte eine Verschiebung von der „Kulturwirtschaft“ (die der Tradition der Frankfurter Schule verpflichtet ist) zur „Kreativwirtschaft“ (Ausweitung auf alle kreativen Inhalte, insbesondere auf digitale).
- Die Kulturindustrien schufen „Produkte“ und „Kulturgüter“, zum Beispiel CDs und DVDs); heute produzieren sie „Services“ (Dienstleistungen), „Streams“, „Apps“ oder „Formate“ (Netflix und andere). Die Art des so generierten Wertes hat sich vom Produkt zum „Content“ verschoben.
- Gestern war dieser „Content“ unmittelbar mit einem Medium oder einer spezifischen Übertragung verbunden. Heute führen Inhalte unabhängig vom „Medium“ ein Eigenleben (App, Website oder „globaler“ Content).
- In der Vergangenheit bestimmten die Eigentümer der Produktionsmittel über den Content, den sie produzierten (auch eine Idee, die mit der Frankfurter Schule verbunden ist). Heute sind weder Sony, Universal noch Paramount direkt für Inhalte zuständig. Als eine Art Bankenkonglomerat beanspruchen sie im Gegenzug zur Bereitstellung von Budget Verwertungsrechte.
- Gestern handelte es sich bei Kreativtalenten um Vollzeitbeschäftigte, die sich oft gegenüber einzelnen Studios loyal zeigten. Heute arbeiten Selbstständige meist projektbasiert (via Vertrag, „Work for Hire“), und Autor*innen (oder die „Showrunners“ einer Fernsehserie) spielen eine zentrale Rolle im Entstehungsprozess.
- Das Start-up-Modell ist zur Norm geworden, wie auch komplexe Akteurskonstellationen.
- Filmstudios, Musikkonzerne oder Verlagskonglomerate waren einst Kulturproduzierende, heute sind sie Finanzdienstleistungsunternehmen. Die „Majors“ arbeiten mit „Independents“ oder „Specialised Units“, um ihre Produkte zu entwickeln (Kleinstunternehmen im Bereich Kino und Videospiele; Druckereien im Verlagswesen; Labels im Musikbereich und andere).
- Heute dominiert das Digitale alle Sektoren: Wäre die digitale Wirtschaft ein Land, wäre es bereits die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt.